Dieser Artikel ist ursprünglich im Erlenbacher Dorfbott, Mai 2017, publiziert worden.
Ich spaziere die Bahnhofstraße entlang, am Gemeindehaus vorbei und erreiche die Kirche Erlenbach. Obwohl ich nicht religiös bin, zieht es mich manchmal dorthin. Es ist ein Rückzugsort, ein Ort der Stille und Besinnung. Ich schreite durch das Tor, entlang der alten und neuen Gräber, die Treppe hinunter, vorbei an der Statue des jungen Mädchens und gehe zum Gemeinschaftsgrab direkt am See. Durch die Sträucher und Äste sehe ich die Weite des Sees mit seiner spiegelglatten Oberfläche. Hier ist die letzte Ruhestätte meiner Mutter, der Ort, den sie sich noch vor ihrem Tod ausgesucht hatte.
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Die Beerdigung
Zum ersten Mal war ich hier, als meine Mutter vor etwas mehr als fünf Jahren beerdigt wurde. Wir waren ein paar Tage zuvor von Sydney angekommen, vom Sommer in den Winter. Ich erinnere mich, wie wir zu Fuß als Familie vom Zuhause meiner Eltern zur Kirche gingen. Es war ein kalter Januar-Tag, aber davon spürte ich nicht viel. Es begegneten mir bekannte Gesichter, die ich während 15 Jahre im Ausland kaum gesehen hatte. Um 14 Uhr läuteten die Kirchenglocken als Zeichen der beginnenden Beerdigungspredigt. Auch heute noch erinnert mich das Kirchengeläut an diesen Tag. Die Kirche war zum Bersten voll. Wir saßen in der ersten Reihe, vor uns auf einer Staffelei ein Bild meiner Mutter. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Es war nur eine Woche her seit dem Anruf meines Vaters, als er mir mitteilte, dass sie gestorben war. Ich drehte mich um und sah die Menschenmenge, all die Freunde, Bekannten und Verwandten, die zu Ehren meiner Mutter hier anwesend waren.
Muttertag ohne Mutter
Bald ist wieder Muttertag. Dieser Tag, der allen Mütter gilt, ist emotional komplex. Einerseits, weil meine Mutter nicht da ist. Andererseits, weil ich neben meiner aufgeweckten, bald sechs jährigen Tochter noch eine weitere Tochter habe. Eine, die niemand sieht und an die sich nur wenige Menschen erinnern: ihre am dritten Tag nach ihrer Geburt verstorbene Zwillingsschwester. Im der Zeitspanne von viereinhalb Monaten wurde ich Mutter, Mutter ohne ihre jüngere Tochter und mutterlose Tochter.
…und ohne Kind
Mein erster Muttertag vor fünf Jahren war zugleich mein erster Muttertag ohne meine Mutter. Als halb verwaiste Tochter brannten mir die wohlgemeinten Sprüche der Muttertagskarten wie Salz auf einer Wunde. Es wurde mir schmerzlich bewusst, dass mir meine jüngere Tochter am Muttertag niemals eine Zeichnung machen, entgegenspringen und um den Hals fallen würde. Eine Tatsache, der ich mir noch heute sehr bewusst bin und die mir einen tiefen Atemzug abfordert. Ich bin kaum die Einzige, der es so geht. Dass die Mutter irgendwann stirbt, ist zu erwarten. Aber wussten Sie, dass eine von vier Schwangerschaften in einem Verlust endet? Das eigene Baby durch Fehlgeburt zu verlieren, tot zu gebären oder sein Kind begraben zu müssen, passiert öfter, als man meint. Muttertag ist mittlerweile so kommerzialisiert, dass man ihm nicht ausweichen kann.
Viele Menschen tragen ihre Trauer im Stillen. Schwangerschaften ‚soll’ man laut Rat der Frauenärzte vor der 12. Woche nicht mitteilen, da die prozentuale Quote von Verlusten erst im zweiten Trimester merklich sinkt. Auch wenn es Menschen vielleicht nicht so offen zeigen – ein Verlust (der eigenen Mutter oder eines Kindes) geht nie spurlos an jemandem vorbei.
Als Psychotherapeutin arbeite ich schon seit 15 Jahren mit Menschen in Trauer. Man könnte also annehmen, dass ich auf die Trauererfahrung hätte vorbereitet sein sollen. Aber das Wissen, auch wenn es mir half meinen Prozess zu verstehen, hatte jedoch keine mindernde Auswirkung auf die emotionale Achterbahn, durch die ich hindurchmusste.
Hast du noch andere Kinder?
Der oft gestellten Frage «Hat deine Tochter noch Geschwister?», begegne ich mit Offenheit und Ehrlichkeit. Viele reagieren jedoch hilflos, wenn sie meine Geschichte hören. Die Realität, dass mein Kind in meinen Armen gestorben ist, macht sprachlos. Kindstod ist ein Tabu. Es entspricht nicht der natürlichen Abfolge, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben. Eltern wollen sich diese Situation gar nicht vorstellen. Einige brechen das Gespräch ab, andere gehen mir aus dem Weg. Wenige sprechen weiter und haben den Mut, Fragen zu stellen. Es ist mir ein Anliegen, ihnen zu zeigen, dass man mir nicht weh tut, wenn man weiterspricht oder Fragen stellt. Ich möchte Mut machen, offener mit dem Tod und mit Trauer umzugehen. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, früher oder später müssen wir uns alle damit beschäftigen.
Seit ich mit meiner Familie vor bald fünf Jahren aus Australien zurückgekehrt bin, wohnen wir in Erlenbach, im letzten Zuhause meiner Mutter. Hier zu leben, verbindet mich mit ihr. Nach einer Anpassungsphase fühle ich mich heute sehr wohl. Ich schätze mein Zuhause und Erlenbach ist der Ort, woran sich meine Tochter als ihr erstes Zuhause erinnern wird. Menschen sind weiterhin präsent, auch wenn sie nicht mehr physisch in dieser Welt sind. Das ist mir seit dem Tod meiner Tochter und meiner Mutter sehr bewusst. Vielleicht kennen auch Sie, die diese Kolumne lesen, eine Mutter, die nicht alle ihre Kinder großziehen kann, oder eine Tochter, die keine Mutter mehr hat. Haben Sie doch auch den Mut und gehen Sie auf sie zu.
Am kommenden Muttertag werde ich wieder zum Friedhof spazieren. Nicht aus Traurigkeit um den Verlust, sondern aus Erinnerung und Dankbarkeit an die Mutter, die viel dazu beigetragen hat, was ich mit meinem Leben mache.
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